Gedanken über den Hohensülzener Diatretbecher

 

Rosemarie Lierke bezieht sich in ihrem Buch "Antike Glastöpferei - Ein vergessenes Kapitel der Glasgeschichte" (1) unter anderem auf folgende Beobachtungen von Anton Kisa (in: "Das Glas im Alterthume" Band II (2)). Sie führt die folgenden drei Zitate als Beleg für ihre Theorie der Herstellung von Diatretbechern mittels Pressen in Formen unter Verwendung von einer Zwischenform zur Erstellung des Netzes und der Stege an (3):

 

Zitat R.Lierke (3):

'Anton Kisa wörtlich zum Hohensülzener Diatret in 'Das Glas im Altertume' II:

S. 621

"Das innere Gefäß ist ... vom Schleifrade vollkommen unberührt"

"Einzelne an dem Kern anhaftende Stege sind zu kurz geraten, aber nicht etwa abgebrochen, denn sie haben eine rundliche Spitze, welche offenbar das Netzwerk gar nicht berührte..."

 

S. 622

"Die zu kurz geratenen, aber nicht abgebrochenen unter ihnen, enden in eine weiche rundliche Spitze, ohne jede Spur von Bruch oder Splitterung, wie eben nur ein heiß aufgesetzter Glasfaden enden kann. .... Der Kern war sicherlich niemals überfangen." '

 

Die Zitate sind zwar von R.Lierke wörtlich korrekt wiedergegeben, allerdings aus dem Zusammenhang gerissen. Zudem lassen sich Kisas Beobachtungen am Hohensülzener Diatret (4,5) nicht mehr nachvollziehen, da das Gefäß seit 1945 leider als verschollen gilt.

Vor den oben angeführten Zitaten referiert Kisa über den Diatretbecher aus Daruvar (seinerzeit im kunsthistorischen Hofmuseum Wien): "Was Friedrich über die Herstellung des Münchener Diatretums mitteilt, unterschreibe ich Wort für Wort, es gilt auch vollkommen für das Exemplar aus Daruvar im kunsthistorischen Hofmuseum. Beide sind aus einem Stück mit Bohrer und Rad ausgearbeitet." ((2) S.620)

Weiter wird von Kisa zur Herstellungstechnik ein kleines, zweifarbiges Fragment im Österreichischen Museum in Wien angeführt: "Die flachen Bügel, welche es anstatt des Netzwerkes schmücken, stehen weit genug auseinander, um auch eine genaue Prüfung ihrer Rückseite und der Stege zu ermöglichen. Darnach ist der Überfang durchbrochen und sowohl von diesem auf der Rückseite, wie von dem inneren Glaskerne auf der Außenseite eine Schichte von je 2 mm Stärke abgeschliffen. Die verbindenden Stege bestehen zur Hälfte aus der kobaltblauen Masse des Überfanges, zur anderen Hälfte aus der farblosen des Gefäßes. Es kann daher keine Rede davon sein, dass sie nachträglich angelötet wären." ((2) S.620/621)

Zum Beleg, dass es mehrere Herstellungsarten von Diatreten gegeben haben muss, führt Kisa das oben angesprochenen Fragment aus Hohen-Sülzen (6) an und kommt durch seine Beobachtung der kurzen, vor dem Netzteil endenden Stege zu folgendem Schluss: "Das Gefäß ist in der Art hergestellt, dass auf dem inneren geblasenen Kern in regelmäßigen Abständen Spitzen aufgesetzt wurden, wie an Stachelbechern, worauf man das Ganze in die bereits fertige durchbrochene Krystallschale einfügte." ((2) S.621/622) mit folgender Anmerkung als Fußnote: "Die Stege sind daher angesetzt ("gelötet"). Beim Wiener Exemplar, das übrigens viel kleiner ist, sehen die Stege ganz anders aus; bei dem Bonner sind sie zum Teil kantig gebildet. Die zu kurz geratenen, aber nicht abgebrochenen unter ihnen, enden in eine weiche rundliche Spitze, ohne jede Spur von Bruch oder Splitterung, wie eben nur ein heiß aufgesetzter Glasfaden enden kann. […] Der Kern war sicherlich niemals überfangen." ((2) S.622)

Unter Berücksichtigung dieser Beobachtungen unterscheidet Kisa drei Arten der antiken Netzgläser: "Erstens solche, welche aus einem homogenen, mittels Bohrers und Schleifrades bearbeiten Krystallkörper bestehen, dann solche, welche auf dieselbe Art aus Überfangglas hergestellt sind, und drittens Diatreta, bei welchen das Netz für sich geschliffen ist und mittels Stegen um ein kleineres Gefäß befestigt ist." ((2) S.622)

Fassen wir zusammen: Laut Kisa bestand der innere Becher des Hohensülzener Diatrets aus geblasenem farblosem Glas, welches im Bruch leicht grünlich war, das ihn umgebende Netzwerk hingegen aus im Bruch gelblichem Kristallglas, "wie es zum Schleifen verwendet wird" ((2) S.621).

Wäre dieser Becher nicht, wie von Kisa angenommen, aus zwei Teilen mittels Stäben montiert, sondern wie von Lierke angenommen, (womöglich drehend) gepresst worden sein, so wäre der Herstellungsablauf wie folgt gewesen:

1. In die äußere Ausgangsform wird das (von Kisa so genannte) Kristallglas gedrückt.
2. Der perforierte Form-Zwischenbecher wird eingedrückt - hierdurch wird auch Kristallglas in die Hohlräume für die Stege (Perforation) gedrückt.
3. Das farblose Glas für den Innenbecher wird eingedrückt - hierbei verbinden sich die Glassorten von Außen- und Innenglas in den Stegen.
4. Zuletzt wird das Außenglas zur Herstellung des Netzes beschliffen.

Für unrealistisch und den Eigenschaften des Werkstoffs Glas nicht genügend Rechnung tragend halte ich die für diese Herstellungsweise nötige Voraussetzung, dass das Glas in den schmalen Löchern des Zwischenbechers eine Distanz von fast. 2 cm ((1) S.289) bei wenigen Millimetern Steg- bzw. Lochbreite schließen müsste.

Da ich bezweifele, dass auf den Zwischenbecher großer Druck ausgeübt werden kann, wird das außen befindliche Glas wohl nicht weit in den Steglöchern steigen. Aber es wird - ausreichende Temperatur vorausgesetzt - zumindest etwas in ihnen steigen und sich mit dem von innen eingedrückten Glas verbinden. Das bedeutet, dass die "Hauptarbeit" der Steg-Erstellung dem innen eingedrückten Glas obliegt. Dies steht im Widerspruch zu Kisas Beobachtung, dass "das umgebende Netzwerk hingegen […] aus feinem Krystallglase" ((2) S.621) bestand, denn das Netzwerk schließt die Stege ein.

Ebenso beobachtete Kisa (wie ja von Lierke zitiert): "Einzelne an dem Kern anhaftende Stege sind zu kurz geraten, aber nicht etwa abgebrochen, denn sie haben eine rundliche Spitze, welche offenbar das Netzwerk gar nicht berührte." Da aber bei Lierkes Methode eine perforierte Zwischenform in das heiße und somit plastische Außenglas eingesetzt wurde, müssten genau an diesen Stellen, wo das nunmehr von innen hineingepresste Innenglas den äußeren Bereich nicht erreichte, mindestens nuppenförmige Absätze erkennbar sein, wo das Außenglas dem Innenglas entgegen kam. Davon erwähnt Kisa allerdings nichts.

Interessant ist auch Kisas Beobachtung an den runden Stäben selber: "Fast alle zeigten eine nachträgliche, wenn auch nicht durchgehende Überarbeitung mit dem Schleifrade." ((2) S.621) Dies und die - den noch existierenden Fotos des Bechers nach zu urteilen - recht unregelmäßige Anordnung der Stäbe scheint eher Kisas Montage-Theorie als Lierkes Zwischenform-Theorie zu bestätigen, denn bei der Erstellung einer Zwischenform für ein solch hochwertiges Gefäß sehe ich keinen Grund, weshalb der Künstler keinen gleichmäßigen Abstand der Stäbe eingehalten hat, wo doch beim Rest des Gefäßes ein Bemühen um regelmäßige Formen gut erkennbar ist.

Leider ist dieser Diatretbecher verschollen (7,8), so dass eine intensive Untersuchung seiner Oberfläche zur abschließenden Klärung der offenen Fragen leider unterbleiben muss. Bislang können nur Fotos (9), Abbildungen und Beschreibungen herangezogen werden. Legen wir diese Quellen zugrunde, so sind die von Rosemarie Lierke oben angeführten Zitate von Anton Kisa für sie wenig hilfreich, da sie bei genauer Betrachtung eher dazu geeignet sind, ihre Zwischenform-Press-Theorie zu widerlegen denn zu bestätigen.


Frank Wiesenberg, im Mai 2009 (ergänzt im September und November 2009 und Januar 2014)

 

(1)Rosemarie Lierke: "Antike Glastöpferei - Ein vergessenes Kapitel der Glasgeschichte", Philipp von Zabern 1999; http://www.rosemarie-lierke.de/Glastoepferei/glastoepferei.html#Kontroversen
(2)Anton Kisa: "Das Glas im Alterthume" Band II, Hiersemanns Handbücher Band III, Leipzig 1908
(3)http://www.rosemarie-lierke.de/Diatretglas/Kisa-Text/kisa-text.html
(4)Abbildung bei R.Lierke "Antike Glastöpferei - Ein vergessenes Kapitel der Glasgeschichte" Seite 285
(5)Der heutigen Ortsnamen-Schreibweise nach müsste es eigentlich korrekter: "Hohen-Sülzener" heissen, aber aufgrund der bisherigen Publikationen möchte auch ich bei der alten Schreibweise bleiben.
(6)Der Hohensülzener Becher war damals im Provinzialmuseum Bonn.
(7)"Insgesamt wurden bei dem Fund von Hohen-Sülzen 1869 sechs Gläser aus zwei Sarkophagen geborgen, darunter auch das Diatretglas, das vielleicht wertvollste Glas, das jemals in der Obhut des Museums [in Mainz] war. Von den sechs Gläsern befindet sich heute leider nur noch ein einziges Glas in der Sammlung des Landesmuseums Mainz: die Dionysos-Flasche. Alle anderen Gläser dieses kostbaren Fundes sind seit dem Krieg verschollen. Dies ist umso tragischer, als besonders wertvolle Sammlungsbestände des Hauses - unter ihnen auch das Diatretglas und die Dionysos-Flasche aus Hohen-Sülzen - im Oktober 1939 nach Erbach im Odenwald ausgelagert wurden. Bei einer Überprüfung der ausgelagerten Bestände im September 1943 waren beide Gläser noch vorhanden. Als die Kunstwerke nach dem Krieg über den Central Collecting Point Wiesbaden - sie wurden dort neu verpackt und zwischengelagert - an das Mainzer Museum zurückgeführt wurden, war das Diatretglas nicht mehr vorhanden. Der heutige Verbleib des Diatretglases ist unbekannt. So kam nur die Dinonysos-Flasche nach Mainz zurück."
Quelle: Michael Klein / Dunja Zobel-Klein: "Die Dionysos-Flasche von Hohensülzen und die Lykeus-Werkstatt" in: "Römische Glaskunst und Wandmalerei", Philipp von Zabern 1999
(8)Die noch existierende Kopie im Landesmuseum Mainz kann schon aufgrund ihres Materials nicht als Referenz herangezogen werden: Bronze und Gips sind leider kein Glas. Auch eine von Josef Welzel (siehe Josef Welzel: "Becher aus Flechtwerk von Kristall - Diatretgläser, ihre Geschichte und Schleiftechnik") hergestellte Kopie kann aufgrund des Fehlens des Originals nicht als Referenz gelten.
(9)Fotos u.a. in Michael J. Klein: "Das Diatretglas von Hohen-Sülzen". In: Archäologisches Korrespondenzblatt 24 Heft 3, Mainz 1994

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